Ein Buxtehuder fliegt zur WM

Tim Haller (16) ist deutscher Vize-Meister im Para-Badminton. Er zeigt, was Menschen auch mit Handicap erreichen können…

          

„Ich gucke erstmal, wie die Bälle dort überhaupt fliegen, weil die Luft da anders ist“, witzelt Tim Haller ausgelassen gegenüber Hit-Radio Antenne. Denn das Badminton-Talent lebt nun mit der Gewissheit, dass er ins zentralamerikanische Guatemala reisen wird – zur Weltmeisterschaft für Menschen mit Behinderungen. Für fünf Tage, vom 22. bis zum 26. November, schnuppert der Nachwuchssportler aus Buxtehude internationale Turnier-Luft. Dann wird die Kapitale Guatemala-Stadt der Mittelpunkt der weltweiten Para-Badminton-Szene sein. Die Vorfreude ist grenzenlos. „Von mir aus kann es morgen losgehen“, sagt Tim. Angemeldet ist der 16-Jährige bereits. Die Flüge und das Hotel sind gebucht. Auch die Schule legt dem Integrationsschüler keine Steine in den Weg und befreit ihn vom Unterricht.

Vordergründig wird jedoch das Para-Badminton-Turnier sein, ein Wettbewerb für Rollstuhlfahrer, Kleinwüchsige und stehende Behinderte, auch „Fußgänger“ genannt. Zu letzteren zählt der Buxtehuder. Denn er ist rechtsseitig gelähmt und hochgradig schwerhörig. Daher benötigt er in der 9.290 Kilometer entfernten Republik die Unterstützung seiner Mutter Rose-Mary Haller. Sie wird ihren Filius begleiten und ihm auch sportlich zur Seite stehen. Stolz sagt sie: „Ich bin unglaublich froh, dass es geklappt hat.“

 

Die Weltmeisterschaft wird für Tim eine Erfahrung sein, die ihm niemand nehmen kann. Schon die angenehme Atmosphäre, die er auf den Deutschen Meisterschaften und bei den German International erlebte, begeistert ihn.

Unermüdliche Spenden-Sammler

Dabei stand das Haller-Duo noch Ende August vor einer gewaltigen Aufgabe. Es galt, 3.500 Euro für das WM-Abenteuer aufzubringen. Eifrig suchten sie Sponsoren, sammelten Spenden – und wurden fündig. Nur drei Wochen später haben die beiden dank zahlreicher Geldgeber die erforderliche Mindestsumme zusammen.

„Das war ganz schön anstrengend“, befindet der Begünstigte.

Doch es soll sich lohnen. Der gebürtige Ludwigsburger ist einer von sechs Teilnehmern aus Deutschland. Damit gehört er zu einem kleinen Zirkel Auserkorener unter 170 WM-Teilnehmern aus 25 Nationen.

Intensive Vorbereitungen

Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Viermal oder sieben bis zehn Stunden trainiert Tim Haller pro Woche. Er duelliert sich mit Herren aus der ersten Mannschaft des BSV und absolviert eine Einheit beim TVV Neu Wulmstorf.

„Tim ist nur schwer aus der Halle zu bekommen“, bemerkt Rose-Mary Haller grinsend. „Solange er nicht bei seinen Aufgaben im Haushalt oder in der Schule schludert, ist das aber in Ordnung.“

Jugendtrainerin Heike Koch will den amtierenden Deutschen Vize-Meister im Para-Badminton vor allem läuferisch und konditionell im Einzeltraining „pushen“. „Das Niveau soll schrittweise steigen.“ Sie hat Videoaufnahmen von Hallers Teilnahme an den German International in Dortmund ausgewertet. Verbesserungsbedarf bestünde vor allem beim Aufschlag und bei der Ballannahme (welche Schlagworte sind hier richtig bzgl. Verbesserungsbedarf).

Koch will Tim optimal vorbereiten. Damit dies gelingt, hat er gemeinsam mit seinem Doppel-Partner, den Beinamputierten Heiko Vüllers aus Gelsenkirchen, trainiert. Eine Mixed-Partnerin bekommt er wahrscheinlich vor Ort zugeteilt. Dazu wird Tim als „wanted“ (gesucht) markiert.

Problematisch ist allerdings in Heike Kochs Augen, dass über die 16 möglichen Gegner des Buxtehuders im Einzel, Doppel und Mixed und deren Beeinträchtigungen wenig bis nichts bekannt sei. Bekannt ist nur, dass die Asiaten als Favoriten beim World Cup an den Start gehen. Gegner aus Südkorea und Malaysia würde Tim Haller aus eigener Erfahrung gerne meiden. Dennoch wünscht er sich, die Gruppenphase zu überstehen. Gleichwohl ist ihm bewusst, dass es nicht schlimm sei, zu verlieren. Die WM ist eben ein anderes Kaliber.

Sollte er Lehrgeld zahlen müssen, fordert Trainerin Heike Koch, dass sich ihr Schützling so teuer wie möglich verkaufen solle. Das ist durchaus realistisch. Tim habe seit Anfang 2011 einen beachtlichen Leistungsschub gemacht, bilanziert die Trainerin und relativiert allerdings angesichts der kurzen Vorbereitungszeit im gleichen Atemzug: „Wir können nicht zaubern.“ Abgesehen vom Leistungsanspruch, lobt die Trainerin, mache es Spaß, mit Tim zu arbeiten. „Man merkt, dass er will, nicht diskutiert und vorbildlich mitzieht.“

Auch die Bewegungsabläufe, befindet Heike Koch, zeigten kaum Anzeichen von Beeinträchtigungen. „Im Training fordere ich von Tim das gleiche wie von jedem anderen.“ Er kommt mit seiner rechtsseitigen Spastik an Arm und Bein gut zurecht, und den Schläger führt er sowieso mit der linken Hand. Um der Innenohrschwer-hörigkeit zu begegnen, setzten Koch und Haller auf technische Hilfsmittel. Beim Training gibt die Übungsleiterin Anweisungen über ein Funk-Mikrofon. Dieses ist mit einem Empfänger an Tims Hörgerät verbunden.

Koch: „So können wir ruhiger agieren.“

Ein Vorbild für Jüngere

Im BSV schlägt Tim Haller seit vier Jahren Federbälle. Mit Floorball hat er aufgehört.

„Fußball und Handball waren manchmal zu hart“, befindet er. Heike Koch denkt, dass Tim schnell die Fortschritte beim Badminton bemerkt hätte. „Dann macht es Spaß“, so die BSV-Trainerin. Beim Training steht er keinesfalls am Rande. Der WM-Teilnehmer hilft sogar selbst beim Jugend-Training des Buxtehuder SV mit. Dort nimmt er mit seinen 16 Jahren schon jetzt eine gewisse Vorbildfunktion ein. Es sei im Vereinsleben wichtig, meint Abteilungsleiterin Koch, wenn die Jüngeren sehen, was trotz Behinderung und mit Engagement alles machbar sei. „Die Kinder finden es natürlich toll, wenn sie mit oder gegen Tim spielen.“ Was für die Jüngeren Tim ist, ist für Tim Oliver Jakob, sein sportliches Vorbild aus der ersten Garde des BSV.

Hallers Ziel: Jakob früher oder später besiegen.

Soviel Ehrgeiz verdient im Verein Anerkennung.

„Wir sind absolut stolz auf Tim“, verkündet Heike Koch, die ebenfalls Rose-Mary Haller als „unentbehrliche Stütze des Organisatorischen“ lobt. „Ohne ihre Hilfe und die vieler anderer könnten wir die Projekte nicht meistern.“

Eine rosige Zukunft

Im BSV wird Tim weiterhin für die fünfte Mannschaft in der Kreisliga antreten. Dort spielt er auch gegen Erwachsene. Das soll ihm dabei helfen, später die höheren BSV-Teams zu unterstützten – so der Plan. Nach der Weltmeisterschaft stehen für Tim Haller schon die nächsten Termine an, allerdings erst im kommenden Jahr. „Wir wollen mit ihm langsam vorgehen“, sagt Heike Koch.

Die Stationen im Frühling 2012:

       France International in Rodez,

       Deutsche Meisterschaft in Velbert,

       Europameisterschaft in Dortmund.

Dass dem Badminton-Talent eine rosige Zukunft blühe, prophezeien ihm nicht nur der amtierende Europameister Peter Schnitzler und Weltmeister Pascal Wolter. Auch Klaus Hasselmann, Para-Badminton-Experte und beim Deutschen Badminton-Verband für den Behindertensport zuständig, erkannte das Potenzial auf den Deutschen Meisterschaften. Hasselmanns Urteil: „Tim Haller ist ein Diamant, den es zu schleifen gilt.“

Tim Scholz, BSV Aktuell Ausgabe 12   –   hier die Originalfassung

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